ECKEHART EHRENBERG
Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung
Friedrichshain von Berlin


Keine Loyalität für schlechte Politik

Persönliche Erklärung
zur Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain
am 11. März 1998



Sehr geehrte Frau Vorsteherin,
meine Damen und Herren,

mit Wirkung vom 1. März 1998 bin ich aus der SPD-Fraktion ausgeschieden und habe ich mich der Fraktion der Demokratischen Linken Liste angeschlossen. Bitte gestatten Sie mir aus Anlaß dieses Schrittes, der - wie in solchen Fällen üblich - von politischen und moralischen Hinweisen und Aufforderungen begleitet wird, eine persönliche Erklärung nach § 41 unserer Geschäftsordnung.

Das Amt des Bezirksverordneten wird nach Artikel 70 der Verfassung von Berlin und dem Landeswahlgesetz in allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahl über Listen erlangt, die die Parteien und Wählergemeinschaften aufstellen. Nach der Annahme des Mandats ist der Bezirksverordnete verpflichtet, sich an der Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben der BVV zu beteiligen, welche nach Artikel 72 der Verfassung von Berlin sind:

  • die Kontrolle über die Verwaltung des Bezirks
  • der Beschluß über den Bezirkshaushaltsplan und
  • die Entscheidung über die der BVV zugewiesenen Angelegenheiten.

Darüber hinaus ist der Bezirksverordnete nicht verpflichtet, aber den Wählerinnnen und Wählern schuldig, seine Tätigkeit in der BVV nach den Grundsätzen und dem Wahlprogramm der Partei zu gestalten, auf deren Liste er gewählt worden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auf den Listen auch Bewerberinnen und Bewerber auftreten, die Minderheiten in ihren jeweiligen Parteien vertreten. Manche Parteien gehen ja auch gerade damit auf Stimmenfang, daß sie deutlich unterschiedliche Charaktere mit deutlich unterschiedlichen politischen Auffassungen auf ihren Listen versammeln.

Kraft Gesetzes gehören die Bezirksverordneten, die derselben Partei oder der derselben Wählergemeinschaft angehören, auch der gleichen Fraktion an. Was die Parteien betrifft, sollen sie nach Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland das politische Leben nicht reglementieren oder gar in Besitz nehmen, sondern bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Durch das Grundgesetz geschützt ist daher auch die sog. negative Parteienfreiheit, die besagt, daß niemand daran gehindert werden darf, aus einer Partei auszuscheiden.

Rechtlich endet also der Einfluß der Parteien auf die Bewerberinnen und Bewerber bzw. die Mandatsträger mit der Aufstellung des Wahlvorschlags, was keine reine Formalie ist. Das verfassungsmäßige Gebot der direkten Wahl verbietet es den Parteien, in irgendeiner Weise die Listen zu manipulieren oder auch Druck auf die Bewerberinnen und Bewerber auszuüben, ihr Mandat nicht anzunehmen oder gar zurückzugeben.

Was meine Person betrifft, habe ich mich gerade dadurch unbeliebt gemacht, daß ich den Verfassungsauftrag der Kontrolle ernstgenommen habe. Darüber hinaus hat mir hinsichtlich dessen, was ich den Wählerinnen und Wählern schuldig bin, noch niemand offen vorgeworfen, eine andere als sozialdemokratische Politik zu vertreten. Ob auf der anderen Seite die zur Zeit in Berlin von den Sozialdemokraten mehrheitlich verfolgte neoliberale, unsoziale und absolut destruktive Haushaltspolitik mit sozialdemokratischen Grundsätzen zu vereinbaren ist, darf getrost hinterfragt werden. Ebenso darf bezweifelt werden, daß es die Zustimmung der Wählerinnen und Wähler findet, wenn zum Beispiel auch den ärmeren und ärmsten unter ihnen von einer in Berlin leider führenden Sozialdemokratin "Realitätsverweigerung" vorgeworfen wird.

Offen angelastet wurde mir dagegen, daß ich "mit den falschen Leuten zu rede", nicht mehr "vertrauenswürdig" oder, genauer gesagt, nicht mehr zuverlässig sei.

Zuverlässig, muß man hier fragen, für wen und was? Die Demokratie stützt sich unbestritten auf Mehrheitsentscheidungen. Aber für die Qualität der Demokratie ist entscheidend, was die Mehrheit macht und wie sie mit Minderheiten umgeht.

Meine Beobachtung in dieser BVV ist, daß die Parteien bzw. Fraktionen sehr weitgehend Loyalitätsrituale an die Stelle lebendiger inhaltlicher Streitkultur gesetzt haben. Dabei tritt das was hinter das wen zurück. Wen stützt Du noch? Für wen bist Du zuverlässig?

Diese Loyalitätsrituale werden zunehmend von repressiven Maßnahmen begleitet. Minderheiten, die als unzuverlässig erscheinen, werden in willkürlicher Handhabung von Fraktionsrechten aus Ausschüssen zurückgezogen und damit in ihren Mitwirkungsmöglichkeiten beschnitten. Nicht Sachkunde entscheidet, sondern Zuverlässigkeit.

Die Dominanz von Fraktionsinteressen ist in diesem Punkt aber nun mehr als nur eine ärgerliche Begleiterscheinung. Es handelt sich auch nicht mehr einfach um eine in Kauf zu nehmende menschliche Unzulänglichkeit, die sich in herdenmäßiger Organisation ausdrückt. An dieser Stelle entsteht vielmehr ein offener Konflikt mit der ersten Pflichtaufgabe des Bezirksverordneten, nämlich Kontrolle über die Verwaltung auszuüben. Kontrolle ist nicht vereinbar mit Loyalitätsriten, die in erster Linie dem Schutz von Stadträtinnen und Stadträten, sprich denjenigen dienen, die kontrolliert werden sollen.

In Berlin wird das Problem durch besondere Umstände noch verschärft. Auf der Landesebene gibt es wegen der Großen Koalition nur eine kleine und auf der Bezirksebene wegen des Proporzsystems bei der Besetzung der Stadtratsposten so gut wie gar keine Opposition. Das ist das große Handicap der Demokratie in Berlin.

Aber diese Situation, die für sich genommen schlimm genug ist, kann nun nicht auch noch als Entschuldigung für unterlassene Kontrolle dienen. Ganz im Gegenteil müßte der kritische Umgang mit den "eigenen" Stadträtinnen und Stadträten um so mehr gepflegt werden, um dem Verfassungsgebot der Kontrolle überhaupt noch eine Chance zu geben.

Davon kann aber keine Rede sein in einer BVV, in der im Dienste angeblicher Sachpolitik zunehmend eine Art Megakoalition waltet, die die Verwaltung und ihre Kontrolleure im Namen des Friedens harmonisch vereint, mit rebellierenden Minderheiten dagegen sehr unfriedlich umgeht, ja sie gnadenlos ausgrenzt. Dieses Gebilde wird zum wachsenden Erstaunen des düpierten Wählervolks von einer der kleineren Fraktionen in diesem Hause gesteuert, die entsprechend ihrer ideologischen Grundhaltung keine Probleme damit hat, herrschende externe Intereressen für Sachzwänge zu halten und damit auch sie öffentlicher Kontrolle zu entziehen.

Meine Damen und Herren, ich habe die Sozialdemokratische Partei Deutschlands nach fast drei Jahrzehnten verlassen und mich der Demokratischen Linken Liste angeschlossen, weil gerade in einer Zeit fast unbegrenzter Herrschaft des Geldes Kontrolle unverzichtbar ist. Ebensowenig kann es Loyalität geben für schlechte Politik.

Es ist nicht verwunderlich, daß die Hohepriester der großen Parteien von ihrer mit Filz ausgeschlagenen Kanzel herunter eine Moral eigener Art predigen, derzufolge Fraktionswechsel verwerflich sind. Aber unmoralisch ist vor allem schlechte Politik

  • eine Politik, die wenigen nützt und der großen Mehrheit in unserem Bezirk schadet
  • eine Politik, die fixe Ideen wie die sogenannte Bezirksreform an die Stelle überfälliger Problemlösungen setzt und
  • eine Politik, die den Menschen einreden will, daß es sich nicht mehr lohnt, gegen herrschende Interessen zu kämpfen, die sie bedrücken.