DLL-Sprecher Ehrenberg zur Bezirksgebietsreform der Großen Koalition:

Neukölln und Reinickendorf sollten geteilt werden

"Bürgernähe" ist Hohn - keine Spur von mehr Demokratie

Frage: Ihnen macht es Spaß zu provozieren. Ist Ihre Auffassung, zu verkleinern anstatt zu vergrößern, aber nicht schlicht unmodern, will doch jeder heute mehr Effizienz und weniger Kosten?

EE: Gegen Effizienz, die den Bürgerinnen und Bürgern dient, habe ich nichts, und gegen Kosten, hinter denen keine erwünschte Leistung, sondern allenfalls eine Drangsalierung der Bürger steht, hatte ich schon immer etwas. Darum geht es aber gar nicht. Die Große Koalition ist ein Dinosaurier, der die Stadt aussaugt, und der Geist der beabsichtigten Bezirksgebietsreform ist der von vorgestern.

Frage: Wie meinen Sie das?

EE: Gebietsreformen, die zu riesigen Verwaltungsgebilden führten, waren in den Flächenstaaten der westlichen Bundesrepublik das Thema der sechziger und siebziger Jahre, als ein für kleine Verwaltungen unerschwinglicher Großcomputer weniger leistete als der PC eines Schülers von heute. Diese historische Phase ist pass‚ und soll nun in der "Weltstadt" Berlin im Namen angeblichen Fortschritts nachgeholt werden. Das ist nicht nur unmodern, sondern niveaulos.

Frage: Und worum geht es heute?

EE: Heute hat E.F. Schumachers (1) bekannte These "Small is beautiful" eine solide organisationssoziologische und technologische Basis. Höchste Leistung erbringen unter einem gemeinsamen Dach kleine Einheiten, die miteinander kooperieren, teilweise auch konkurrieren. Das Dach ist das Land Berlin, und die - geographischen - Einheiten sind die Bezirke. Die großen Konzerne, die normalerweise eher von den Großkoalitionären als von mir zur Rechtfertigung herangezogen werden, haben nicht nur eine Phase der "Verschlankung" sondern auch der Zerlegung in kleinere, selbständig agierende Einheiten hinter sich, wobei die erwünschte Kundennähe schließlich durch viele noch kleinere "Profitcenter" bewirkt wird.

Frage: Also die kundennahen "Bezirke" direkt unter der Konzernleitung "Land"?

EE: In der - nicht ganz zutreffenden - Konzernanalogie könnte da noch etwas dazwischen sein. Das Dilemma ist: Die kundennahen Einheiten sollen die Bezirke sein. Diese müssen daher zahlreich und klein sein. 12 Einheiten sind dafür viel zu wenig. Andererseits sind 12 Einheiten als Zwischenebene wieder zu viel.

Frage: Was wird also passieren?

EE: Alles gleichzeitig: Das Land wird de facto nicht so viele Kompetenzen abgeben, wie jetzt gesagt wird. Und es hat ja auch schon einen Sinn in einer so eng zusammenhängenden Stadt wie Berlin Einheitsgemeinde bleiben zu wollen. Die Senatsverwaltungen werden also auf Dauer nicht so sehr schrumpfen. Gleichzeitig werden sich die - wenn es denn so kommt - 12 Bezirke aufblähen mit Hierarchen, die unter sich vor Ort allerhand Außenstellen ansiedeln. Letztlich hat man dann einen neuen Wasserkopf, nämlich eine sich selbst genügende Zwischenebene geschaffen.

Frage: Ist das anderswo ähnlich geschehen?

EE: In den Großstädten westlicher Bundesländer hat man die alten Rathäuser nicht zu Diskos umfunktioniert, sondern zu Bezirksverwaltungsstellen gemacht, also weiterhin mit Bürokraten angefüllt.

Frage: Wie wollen Sie also das Problem in Berlin lösen?

EE: Ich sagte schon, daß es nicht nur um vermeidbare Doppelarbeit geht, wenn man sich im Senat auch um einzelne örtliche Probleme kümmert. Wenn also der prinzipielle Anspruch der Einheitsgemeinde Berlin aufrecht erhalten wird, kann man direkt unterhalb des Senates ruhig 23 oder auch mehr Bezirke ansiedeln und benötigt weiterhin keine Zwischenebene. Diese kleinen Bezirke können dann weitgehend autonom und zugleich - zumindest räumlich - bürgernah agieren, während der Senat punktuell Probleme von gesamtstädtischer Bedeutung aufgreift und auch das Recht dazu behält, entsprechend einzugreifen.

Frage: Ist denn Bürgernähe nur ein Problem räumlicher Nähe?

EE: Ganz und gar nicht. Im Gegenteil möchte man zwar keine weiten Wege gehen, wenn man schon einmal zum Rathaus muß; aber wer will schon einen Bürokraten direkt vor der Haustür? Hier besteht ein Problem, das völlig unabhängig von der Bezirksgebietsreform gelöst werden muß, daß nämlich dem Bürger schnell, freundlich und kompetent geholfen wird, anstatt ihn zu bedrohen und Zumutungen auszusetzen. Ich sagte aber schon, daß gerade kleine Einheiten im Kundendienst heute sehr leistungsfähig sein können; man muß es nur wollen.

Die Großkoalitionäre machen sich den Verdruß der Bürger und die Unbeliebtheit der Bezirksverwaltungen zunutze, um die Bezirke zu verändern, aber leider in der falschen Richtung. Daß bei der Zusammenlegung mehr Bürgernähe herausspringen soll, glaubt aber eigentlich niemand, ebensowenig, daß auf lange Sicht Geld gespart wird. Der Bürger ist einfach hilflos und resigniert.

Frage: Und auf kurze Sicht?

EE: Auf absehbare Zeit werden die Bezirke ziemlich handlungsunfähig. Kapazitäten, die dringend für andere Problemlösungen gebraucht werden, sind jetzt schon durch Überlegungen der Bürokraten von der Art gebunden: Nützt oder schadet mir die Veränderung? Wo ist zukünftig mein Arbeitsplatz? Mit wem werde ich zusammenarbeiten müssen? Wird mein Aufstieg behindert oder gefördert? Die Leute werden sich nur noch mit sich selbst beschäftigen, eine Sitzung wird die andere jagen. Die dadurch entstehenden Kosten, die niemand exakt berechenen kann, werden immens sein.

Frage: Gibt es nicht aber auch Beispiele dafür, daß die Änderung historisch gewachsener Bezirksgrenzen sinnvoll ist?

EE: Durchaus. Solche Änderungen hat es auch in der Vergangenheit immer einmal wieder gegeben. Mit Erstaunen habe ich aber fertgestellt, daß solche Probleme gern umgangen werden. Seit langem beobachte ich mit Verwunderung, wenn nicht Erschrecken, ein Beispiel in Friedrichshain. Da gibt es einen Teil des ehemaligen Zentralviehhofs, der zu Prenzlauer Berg gehört, raumstrukturell aber allein mit Friedrichshain verflochten ist. Der historische Grund ist, daß der Zentralviehhof auch aus Flächen bestand, die raumstrukturell zu Prenzlauer Berg gehören, man aber verständlicherweise nicht wollte, daß durch das Betriebsgelände eine Bezirksgrenze geht. Nun gibt es den Zentralviehof schon seit acht Jahren nicht mehr, und die beiden genannten Teile werden völlig unterschiedlich genutzt. Meinen Sie, die überfallige Grenzkorrektur wäre auf den Weg gebracht worden? Natürlich nicht. Und dadurch, daß jetzt Friedrichshain mit Kreuzberg zusammengefaßt werden soll, ändert sich der Zustand auch nicht.

Frage: Kommen wir zurück zur Funktionsfähigkeit vergrößerter Bezirke. Nun kann man aber doch die öffentliche Verwaltung nicht nur mit einem Konzern vergleichen, und sie haben selbst schon das Demokratieproblem in den Raum gestellt.

EE: Wir brauchen mehr Demokratie und mehr Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen und nicht weniger. Bürokraten und Technokraten sehen Bürgerbeteiligung als hinderlich an und verkennen die motivierende Wirkung, die von der Beteiligung ausgeht. Es ist kein Zufall, daß dieselben Leute nun die räumliche Struktur von Berlin umkrempeln wollen, die bereits die Olympiabewerbung und die Fusion Berlin-Brandenburg vergeigt haben, weil sie etwas gegen das Volk oder zumindest am Volk vorbei, bzw. gegen starke Minderheiten durchsetzen wollten. Im Grunde braucht man jetzt eine Zweidrittelmehrheit in einem Volksentscheid - und nicht in einem Parlament. Sonst ist die Basis viel zu schmal.

Frage: Wie haben sich denn die demokratischen Strukturen in den Großstädten des Westens nach der Gebietsreform in den sechziger und siebziger Jahren entwickelt?

EE: Das Ergebnis ist sehr lehrreich und wird vielleicht gerade deshalb von den Großkoalitionären völlig ignoriert. Es blieben nämlich nicht nur die alten Rathäuser mit Bürokraten gefültt, sondern es wurden auch neue - vom Volk gewählte - Bezirksvertretungen geschaffen. In Bonn zum Beispiel, das in Berlin gern belächelt wird, gibt es bei etwas über 300.000 Einwohnern - die Größenorndung von Neukölln - vier Bezirksrathäuser und vier demokratisch gewählte Bezirksvertretungen. In Nordrhein-Westfalen - wie in anderen sog. Flächenstaaten - ist es sogar gesetzlich vorgeschrieben, daß Großstädte unterhalb der Ebene der Stadtparlamente - vergleichbar mit unseren Bezirskverordnetenversammlungen - gesonderte Bezirksvertretungen zu wählen haben. Und das ist auch unumgänglich, wenn man bürgernahe Demokratie auch nur ansatzweise verwirklichen will.

Frage: Diesem Anliegen will man aber doch in Berlin durch eine Vergrößerung der Bezirksverordnetenversammlungen entgegenkommen?

EE: Das ist ein schlechter Witz. Erstens wird es pro Einwohner in Zukunft in den meisten Bezirken weniger Bezirksverordnete geben als vorher. Zweitens kann doch wohl niemand mit auch nur einem Minimum an parlamentarischer Erfahrung ernsthaft behaupten, örtliche Probleme könnten in einer vergrößerten Versammlung angemessen behandelt werden. Wie lang soll denn die Tagesordnung werden?

Frage: Man wird also auch in Berlin demokratische Strukturen unterhalb der heutigen Ebene der Bezirksverordnetenversammlungen schaffen müssen?

EE: So ist es. Und auch darum ist es besser, Neukölln und Reinickendorf zu zerlegen, als wer weiß wen zusammenzulegen, einen neuen Wasserkopf zu schaffen und dann irgendwann einmal weiter unten von vorn anzufangen.

Schumacher, E.F.: Small is beautiful, London 1973 (deutsch: Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik, Reinbek bei Hamburg, 1977).zurück